Literatur: Gedanken, Geschichten, Romane

Datei

Led Zeppelin / Stairway to Heaven

Datei herunterladen

Der Debütant_Fortsetzung 1

3


Die Tage zwischen dem letzten Sonntag und der folgenden Woche verliefen alles andere als zufriedenstellend. Zum einen konnte Bernard an nichts anderes als an Isabelle denken, zum andern war das Alltagsgeschäft mehr als mühsam. Neben den administrativen Arbeiten standen unzählige Kleindelikte an, die es zu bearbeiten galt: Ladendiebstahl im nahe gelegenen Carrefour, Vandalismus bei der Präfektur und häusliche Gewalt in einer scheinbar ehrbaren Familie. Was Bernard hingegen am meisten beschäftigte, war der Umstand, dass ab einem Ausflug im nahe gelegenen Parc Naturel Régional de Camargue ein 12-jähriges Mädchen vermisst wurde. Das Mädchen war mit seinen Eltern und den beiden Geschwistern unterwegs und ab einem Zwischenhalt im lichten Wald war das Kind plötzlich verschwunden.

Die Nachsuche der Eltern verlief ergebnislos und sie konnten sich nicht erklären, wo das Mädchen stecken könnte. Der Naturpark war riesig mit Vögeln, freilaufenden Stieren und Pferden, aber auch mit unberechenbaren Sümpfen. Endlich alarmierten die Eltern die Polizei. Bernard war sofort zur Stelle und organisierte in Abwesenheit seines Chefs das Notwendigste. Vor allem musste es darum gehen, unverzüglich und mit dem grösstmöglichen Aufgebot die Suche nach dem Mädchen einzuleiten. Hilfreich für diese Zwecke waren jeweils die «Sapeurs-Pompiers», die Feuerwehr im Zuständigkeitsbereich. Sie half stets unkompliziert und war sich gewohnt, in unwegsamem Gelände zu wirken.

So zum Glück auch heute. Nach nur kurzer Zeit konnte das Mädchen bei einem nahe gelegen Flussbett gefunden werden. Sie wollte einige Fische beobachten und war dabei ins Straucheln geraten. Der verknackte Fuss erlaubte es ihr nun jedoch nicht mehr zu laufen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als auf Hilfe zu hoffen. – Überglücklich nahmen die Eltern ihr Mädchen gegen Abend in die Arme und dankten den Hilfskräften für die Unterstützung. Der Tag war ein voller Erfolg für Bernard, und er ging zufrieden und mit einem Wohlgefühl nach Hause, schloss im Bett die Augen und sah Isabelle vor sich. Wow, welch schöne Frau! Hoffentlich werden wir eins!


Isabelle war die ältere Tochter von Fabienne, der Ehefrau von Paul Bertrand. Sie führte das Restaurant «La Cigale», welches für ihre Muschelspezialitäten bekannt war. Fabienne war eine gewiefte Geschäftsfrau, welcher man so schnell nichts vormachen konnte. Sie hatte den Laden im Griff. Ab und zu wurde sie von ihren beiden Töchtern, Isabelle und Désirée, unterstützt. Die beiden jungen Frau lebten jedoch zumeist ihr eigenes Leben und so kam es nicht oft vor, beide im Restaurant anzutreffen. Désirée war von Beruf Kunstschmiedin, Isabelle Photographin. Beide Frauen hatten ihr künstlerisches Talent wahrscheinlich von ihrem Vater mit auf den Weg bekommen. Paul war von Beruf Künstler, der naiven Malerei zugetan. Leben konnte die Familie Bertrand kaum von den Einkünften des Mannes, womit es mehr als willkommen war, dass Fabienne ein solch glückliches Händchen im Umgang mit Geld hatte.


Bernard konnte es kaum erwarten, bis wieder Wochenende war. Er sehnte sich nach Isabelle, obwohl er sie kaum kannte. Sie hatte ihn einfach verzückt, ihm den Verstand geraubt. Am Sonntag, kurz nach dem Mittagessen, wollte er sich auf den Weg machen. Sein Döschwo zeigte ihm die Schnauze und signalisierte: Ich bin bereit. – Aber weit gefehlt. Die erste Zündung fiel ins Leere, ebenfalls die zweite und bei der dritten klang die Batterie schon erstaunlich müde. Was tun? Glücklicherweise konnte man einen 2 CV auch mittels Kurbel im Motorraum zum Starten bringen, sofern das Vehikel denn wollte. Also setzte Bernard den Hebel an und bekam prompt den Rückschlag der Kurbel ins Handgelenk zu spüren. Du verfluchtes «Mistding», ging Bernard durch den Kopf, aber er äusserte es nicht, da er wusste, dass seine «Ente» pfleglich behandelt werden wollte. Also sprach er ihr gut zu und siehe da, beim zweiten Mal sprang die Karre an. 

Angekommen in Arles platzierte er sein Entchen so, dass er es leicht anschieben konnte, sollte es wieder bocken. Zum Glück gab es in der Nähe des Restaurants «La Cigale» eine Seitenstrasse, die leicht abwärts zum Rhone Ufer führte. Hoffentlich hielt die Handbremse und löste sich der eingelegte Rückwärtsgang nicht. Mit dieser Hoffnung begab sich Bernard ins Restaurant. Dort angekommen hätte seine Enttäuschung nicht grösser sein können. Anstelle von Isabelle begrüsste ihn ein junger Mann, gutaussehend, etwa in seinem Alter und sehr adrett gekleidet. Er erkundigte sich nach seinen Wünschen und wies ihm einen Tisch zu. Bernard bestellte wie beim letzten Mal ein ‘demi’.

Nach etwa einer halben Stunde und einem zweiten 'demi’ wollte Bernard bereits aufbrechen, als zwei junge, hübsche Damen das Restaurant betraten. Die eine von den beiden war Isabelle, die andere kannte er nicht. Sofort erkannte Isabelle Bernard und trat zu ihm an den Tisch. «Darf ich dir vorstellen? Dies ist meine Schwester Désirée. Wir helfen ab und zu unserer Mutter hier im Restaurant. Der gutgekleidete Kellner ist übrigens unser Bruder Claude. Auch er hilft hier ab und zu aus; so wie heute.»

«Hast du schon etwas gegessen, Bernard? Wie wäre es mit ‘moules et frites’? Eine Spezialität des Hauses. Meine Mutter versteht es hervorragend Muscheln zu kochen und diese sind heute Morgen frisch reingekommen.»

«Liebend gern, wenn du oder ihr auch mitesst», gab Bernard zur Antwort. Natürlich würde er am liebsten nur mit Isabelle alleine essen. Aber, sei es wie es soll, er genoss auf jeden Fall die Nähe zu seiner Angebeteten. Kurz darauf servierte Isabelle zwei Teller; wohlgefüllt und unglaublich fein riechend nach Knoblauch, Kräutern und frisch geschlagenem Rahm. Beide fingen an zu essen und nach kurzer Zeit sagte Isabelle: «Ja, ich will! Ja ich will dich heiraten.»

Bernard wäre fast vom Stuhl gefallen, verschluckte sich an einem Pommes frites und konnte sich erst wieder langsam fassen, als ihm Isabelle liebevoll auf den Rücken klopfte. «Aber du kennst mich ja noch gar nicht richtig. Du weisst auch nicht wo und was ich arbeite», stammelte Bernard unbeholfen. «Doch», erwidert Isabelle. «Ich denke sehr wohl, dass ich dich kenne, so wie du bist, und dass ich dich richtig einschätzen kann. Ich liebe dich, und der Rest ist mir egal.» Zärtlich legte sie die Hand auf die seine, und der weitere Verlauf des Tages und des Abends soll ihr Geheimnis bleiben.


So kam es, wie es kommen musste. Wenige Wochen später wurde aus Mademoiselle Bertrand Madame Picard. Isabelle und Bernard heiraten in Arles, natürlich im Restaurant ihrer Mutter. Es war ein wunderschönes Fest und wie auf wundersame Art und Weise verstanden sich die beiden Familien, Picard und Bertrand, auf Anhieb bestens.

Das Ehepaar Bernard und Isabelle musste schon bald wieder weiterziehen: Bernard wurde in die Aquitaine in die Nähe von Bordeaux versetzt. Dort sollte das Ehepaar auch eine Weile bleiben. Schon im Verlauf des ersten Jahres kam zusätzliches Leben in den Ehealltag: Michelle, die ältere Tochter der Beiden erblickte das Licht der Welt. Zwei Jahre später gesellte sich Danielle dazu. – Von nun weg war klar, wer das Sagen hatte. Die beiden Mädchen verstanden es von Kindsbeinen an, ihre Eltern um den Finger zu wickeln und sich in der Familie durchzusetzen. Heute sind beide, Michelle und Danielle, erwachsen und wunderschön anzusehen: die eine gross und blond, die andere etwas kleiner und brünett, beide mit vollem langem Haar, ihrer Mutter Isabelle wie aus dem Gesicht geschnitten.

Aber nicht nur die äussere Erscheinung der beiden lässt keinen Zweifel offen, wer die Mutter ist. Auch im Charakter sind sie ihrer Mutter sehr ähnlich: offen, natürlich, spontan und äusserst herzlich. Bernard könnte sich keine liebevollere Familie wünschen.


«Ja also, Bernard, wo sind wir stehen geblieben?» - Philippe versuchte wieder den Faden aufzunehmen. «Ich musste eben ein paar Gedanken nachhangen. Du weisst ja, mit der Zeit – und vielleicht auch mit dem Alter – werden Gedanken immer wichtiger.» «Oh ja,» antwortete Philippe. «Das kenne ich.»

«Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du Lust hättest, ein paar Tage zu mir nach Sainte-Maxime zu kommen. Bei euch sind die Tage im November ja immer so grau und trist. Hier bei uns scheint die Sonne, und wir könnten gemeinsam noch ein wenig Wärme für den Winter tanken. Was hältst du davon?» «Sehr viel», antwortete Philippe. «Jedoch möchte ich vorgängig einer Zusage noch Deborah fragen, ob sie damit einverstanden ist, wenn ich kurz zu euch komme.» «Und übrigens, lieber Bernard, à propos grau und trist. Schau dir mal das Foto an, dass ich dir soeben per E-Mail geschickt habe. Auch bei uns ist nicht alles grau und trüb.»

«Ah ja, lieber Philippe, du hast vollkommen recht. Der Essigbaum sieht wirklich toll aus! Also, dann warte ich auf deinen Bescheid. Nur nebenbei erwähnt: Isabelle wird in dieser Zeit bei ihrer Schwester in Paris weilen. Die beiden haben sich schon lange nicht mehr gesehen. Und so kurz vor Weihnachten, kann es nicht falsch sein, wenn man sich wieder einmal trifft. -  Alors à bientôt, mon cher.» «À bientôt, Bernard, du hörst von mir.»


Deborah war mit den beiden Hunden Pablo und Enrico spazieren gegangen. Nach ihrer Rückkehr sprach Philippe sie auf das soeben geführte Telefonat mit Bernard an. Er erklärte ihr, dass er eigentlich ganz gerne für ein paar Tage nach Südfrankreich reisen würde, um sich dort mit Bernard ein wenig austauschen zu können. Sie hätten sich wirklich schon lange nicht mehr gesehen und es gäbe sicher vieles zu erzählen. Er hielt aber auch fest, dass sie damit einverstanden sein müsste. Er erklärte im Weiteren, dass Isabelle nicht zugegen sein werde, da er wusste, dass sich die beiden – Deborah und Isabelle – gut verstanden. Isabelle verbringe ein paar Tage bei ihrer Schwester Désirée in Paris. Diese habe dort eine neue Anstellung in einem Schmuckladen gefunden, wo sie ihrer Passion der Kunstschmiede nachleben könne.

«Schade ist Isabelle nicht auch in Sainte-Maxime, sonst wäre ich gerne mitgekommen. Aber so scheint es mir nur recht, wenn du alleine gehst. Für mich stimmt das voll und ganz, und ich wünsche dir schon jetzt eine gute Reise und einen schönen Aufenthalt. Lass Bernard von mir grüssen!»

So waren sie die beiden. Sie kannten sich schon so lange und trotzdem wurden wichtige Entscheidungen immer miteinander abgesprochen.

Noch am selben Abend wollte Philippe Bernard die freudige Mitteilung machen, dass er gerne kommen werde. Das Telefon klingelte zwar vorerst ins Leere, jedoch meldete sich Bernard kurz danach und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. «Superbe! – Und wann kommst du?» «Ich denke, dass ich am Sonntag fahren werde, dann hat es weniger Schwerverkehr», antwortet Philippe. «Parfait, alors jusqu'à dimanche, je t'attends.»


Philippe packte seine sieben Sachen zusammen und war bereit zu starten. Natürlich verabschiedete er sich liebevoll von Deborah und vergass dabei auch die Hunde nicht. Er versicherte Deborah sich zu melden, sobald er angekommen sei und wünschte ihr und den beiden Vierbeinern eine schöne Zeit. Philippe wusste, dass Deborah mit ihrer «freien» Zeit etwas anzufangen wusste. Sie hatte genügend Kolleginnen und Interessen, womit es ihr sicherlich nicht langweilig würde, ein paar Tage ohne ihn auszukommen. Dies kannten sie schliesslich schon von früher, wo sie berufsbedingt zum Teil auch über Wochen hinweg getrennt leben mussten.

Die beiden Vierbeiner missbilligten das Ganze schon eher, fiel der abendliche Spaziergang mit dem Herrchen doch aus. Aber auch sie mussten sich fügen und so startete Philippe seinen Wagen. – Einen in die Jahre gekommen Renault: nota bene.

Deborah machte es sich nach einem letzten Gruss im Sofa gemütlich und trank einen wohlriechenden Tee: Ginger Lemon, einer ihrer Lieblingstees. – Links und Rechts Pablo und Enrico.


4


Hallo, mein Name ist Pablo. Ich bin der ältere von uns zweien. – Und hallo, mein Name ist Enrico. Ich bin der Jüngere. … «Musst du mir immer dreinreden, wenn ich uns vorstellen will?» … «Das mach ich doch gar nicht!» … «Doch, das machst du! Immer, wenn ich etwas erzählen will, redest du mir drein!» … «Stimmt nicht!» … «Doch!»

So geht es dauernd, wenn die beiden zusammen sind. Und trotzdem verstehen sich die beiden eigentlich ganz gut.

Pablo ist ein gestandener Gordon-Setter. Schön anzusehen, liebenswürdig und stolz im Auftreten. Enrico ist ein Mischling. Sein Vater ist ein Flat-coated Retriever, seine Mutter ein Golden Retriever. Enrico steckt noch ein wenig in den Flegeljahren. Trotzdem ist er nicht weniger herzlich.

Beiden Hunden gemeinsam ist, dass sie auf einem Bauernhof auf die Welt gekommen sind. Und beiden Hunden gemeinsam ist zudem, dass sie nach der Trennung von ihren leiblichen Eltern ihr Dasein bei der gleichen Familie fristen.

Der Ausdruck «Dasein fristen» ist eigentlich furchtbar und trifft im vorliegenden Fall auch nicht wirklich zu. Schliesslich haben die Hunde ein schönes Zuhause. Sie werden von zwei erwachsenen Personen umsorgt und haben als «erweiterte Geschwister» zwei Brüder. Das Haus ist ausreichend gross und der Garten ideal um irgendwelche Sachen anzustellen. Auch gibt es grundsätzlich genug Abwechslung durch die Katzen der Nachbarn. – Aber wie es scheint, reicht dies Pablo und Enrico nicht. – Sie suchen noch mehr Abwechslung … eben das Abenteuer! Und dieses finden sie nur, indem sie auf Entdeckungsreise gehen. – Das heisst: sie büxen von zu Hause aus!

Davon soll auch im Folgenden die Rede sein: Zwei Hunde, die die Welt entdecken wollen, sie vielleicht sogar zu erobern wünschen. – Auf jeden Fall ist Spannung angesagt, wenngleich Wehmut mitschwingt, ob dem zeitweiligen Verlust der beiden Vierbeiner.

Wie heisst es so schön? – Abschied nehmen ist ein bisschen wie sterben. Und mit jedem Abschied stirbt man noch ein bisschen mehr. – In diesem Sinn gute Unterhaltung!

«Du Pablo?» … «Was ist schon wieder? Warum lässt du mich nicht ein wenig schlafen? Ich bin noch so müde!» … «Ach, du bist ja immer müde! Sowas von langweilig! Komm lass uns in den Garten gehen und dort ein wenig spielen!» … «Nein, ich mag nicht! Ich muss mich noch von der letzten Nacht erholen!»

In der letzten Nacht war ja ganz schön was los. Zuerst kamen unsere «Brüder» zu Unzeiten nach Hause. Und als die beiden endlich Ruhe gaben, schlich eine Katze ums Haus. Furchtbar! – «Ich habe die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht und jetzt kommst du und willst mit mir spielen gehen. Nein, ich mag nicht. Lass mich in Ruhe!»

Weit gefehlt, wenn man nun denken würde, dass sich Enrico mit dieser Antwort zufriedengeben würde. Nein, jetzt erst recht. Jetzt galt es seinen «Bruder» herauszufordern. Schlafen kann er schliesslich dann, wenn er selber auch müde ist. Und dies ist momentan ganz und gar nicht der Fall. – Action ist angesagt, und diese bedingt das Mitwirken von Pablo. Zu zweit ist man schliesslich stärker, und es kommen einem zumindest doppelt so viele Ideen in den Sinn, als wenn man alleine ist.

«Komm schon! Schwing deine alten Knochen, Brudi! Du wirst noch einrosten, wenn du so weiter machst.» … «Ja jetzt aber mal ‘halt-là’! In deinem Alter hätte ich mir noch nicht solche Frechheiten herausgenommen. Ich wäre schön still gewesen, bis mein älterer Bruder mir signalisiert hätte, dass er so weit ist. – Und solche Signale habe ich noch nicht ausgesendet: capito?»

Eigentlich hatte Enrico schon verstanden. Nur wollte er seinen Bruder nicht in Ruhe lassen. Also ging er näher zu ihm hin und schenkte ihm seine ganze Zuneigung. Zuerst stupfte er ihn mit der Nase an. Als dies auch nichts nützte, nahm er seine rechte Vorderpfote zu Hilfe und legte sie ihm um den Hals. Schliesslich war seine Geduld ausgereizt, und er kniffte ihn mit der Schnauze in den Schwanz. – «Autsch, spinnst du!» … War postwendend die Antwort. «Wenn du das noch einmal machst, dann werde ich dich …» … «Na komm schon, ich will hören, Brudi!»

Nun hatte Enrico seinen Bruder bald da, wo er ihn habe wollte. Nämlich auf den Beinen und nicht in Liegeposition. Jetzt brauchte es nur noch einen letzten Anlauf. – Mit voller Konzentration sprang Enrico freudestrahlend auf Pablo zu und bellte ihm lautstark ins Ohr. Ziel erreicht! – Pablo stand auf. Wendete sich seinem Bruder zu und gab ihm ebenso lautstark zu verstehen, dass er sein Verhalten ganz und gar nicht goutierte. Er schnauzte in regelrecht an, so dass sich die Balken bogen und ob dem Ungemach die Frau des Hauses auf den Platz gerufen wurde.

Aber hallo! … Das war nun aber auch wieder nicht so gedacht.

Die Frau des Hauses – unser Frauchen – ist eigentlich eine ganz liebe Frau. Sie hat viel Verständnis für uns und gibt uns alle Zuneigung, welche Hunde so brauchen. Übrigens ist auch der Herr des Hauses – unser Herrchen – vom selben Schrot und Korn. – Eigentlich können Pablo und ich uns nicht beklagen, und trotzdem ist es mir manchmal einfach zu langweilig.

Also, Pablo will nicht. Dann muss ich mir selber etwas ausdenken. Ich schau mal, dass ich nach draussen komme. Mit etwas List sollte das möglich sein. Ich gebe einfach einmal vor, dass ich pinkeln muss, dann lässt mich mein Frauchen schon in den Garten.

Mit leisem Gewinsel unterstreiche ich mein Unterfangen. Dazu noch die nötigen Bewegungen und dann sollte das schon klappen. Hin zur Tür und dann zurück und das Ganze solange wiederholt, bis auch der Mensch versteht, dass man ein Bedürfnis hat. … Heute dauert das aber wieder. – Manchmal sind Menschen schon schwer von Begriff. Jetzt zeige ich doch deutlich, dass ich nach draussen gehen möchte und … keine Reaktion. Offensichtlich muss ich deutlicher werden.

Soll ich nun bellen oder knurren? – Beides scheint mir nicht angebracht. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mein Frauchen auf andere Weise auf mich aufmerksam zu machen. Ich gehe zu ihr hin und stupse sie leicht mit der Nase an. Dazu gebe ich noch ein leises Geräusch von mir. So, das sollte nun genügen. – Und tatsächlich neigt sich mein Frauchen zu mir und fragt mich, ob ich Hunger habe. Es sei schliesslich Essenszeit.

Hunger? – Welch gute Idee! … Natürlich hab’ ich Hunger. … Eigentlich habe ich fast immer Hunger. Und essen ist schliesslich eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, wenngleich mein Frauchen immer wieder sagt, dass ich ein wenig zu dick sei. – Dies stimmt meines Erachtens aber nicht. Ich bin nicht dick, höchstens etwas rundlich, aber das macht ja auch sympathisch.

Also, wo war ich stehen geblieben? Eigentlich wollte ich nach draussen. – Aber man muss im Leben Prioritäten setzen können. Das habe ich schon früh gelernt. Und deshalb ziehe ich das Essen nun dem Draussen sein vor.

Die Mahlzeit ist wie jeden Tag … immer in etwa dieselbe, aber nach wie vor köstlich. Ich soll beissen und nicht schlingen, heisst es immer wieder. Auch soll ich einmal eine Pause machen und nach dem Essen Wasser trinken. – Alles klar! Wird gemacht! Und wo ist mein Bruder? Dieser Faulpelz verpennt noch das Essen. Wie kann man nur?

Wenn nun Frauchen den Pot für Pablo ebenfalls dazustellt, dann werde ich diesen einfach auch noch verputzen. Nur, um einmal zu schauen, wie er darauf reagiert. … Haha.

Nein, das darf ich mir nicht herausnehmen. … Und da erscheint er ja schon. Seine Nase scheint noch intakt zu sein. Gemächlich nähert er sich seinem Futternapf und mustert mich im Vorbeigehen, ob ich davon genascht habe. – Mein unschuldiges Gesicht signalisiert ‘nada’; womit die Welt für Pablo in Ordnung ist.

Nach dem Essen soll man ruhen oder tausend Schritte tun, heisst es irgendwo. Da nun aber unser Herrchen nicht da ist, wird das Ganze schon ein wenig schwieriger. Nichtsdestotrotz hegt Enrico nach wie vor den Wunsch, etwas mehr als nur den Garten und den nahe gelegen Wald zu entdecken. Es dürstete ihn nach mehr, und er sehnte sich nach der grossen weiten Welt. – Eigenartig komisch, welche Gedanken auch ein Hund haben kann. Aber Enrico mag sich erinnern, dass er zusammen mit seinem Bruder Pablo und ihren «erweiterten Brüdern» Marvin und Rouven einmal das Meer gesehen hatte. Dies lässt ihm keine Ruhe mehr, und er möchte es wiederum sehen und vor allem riechen.

Das Meer duftet so anders als alles andere. Frisch, lebendig, leicht, ein wenig nach Salz und nach Fisch riechend, aber vor allem klar, und es fühlt sich unendlich weit an. Genau das war es, was sich Enrico von der grossen, weiten Welt vorstellte. Keine Grenzen, keinen Zaun im Garten, kein Pfui beim Schmecken, einfach nichts, dass einem hindert zu leben und vor allem zu geniessen. Enrico wollte sein Leben geniessen und zwar in vollen Zügen mit all seinen Facetten. So war für ihn selbstverständlich, dass er einmal durchbrennen, nicht den Rufen und Anordnungen seines Frauchens gehorchen wollte. Er wollte einfach nur frei sein.

Sein Bruder Pablo war da schon etwas anders. Etwas gemütlicher, gesetzter und dementsprechend auch bedächtiger. Immer, wenn Enrico einen Vorschlag brachte, erstickte Pablo diesen im Keim, mit Bedenken und Befürchtungen, dass das Ganze im Chaos enden könnte. – Was soll’s? Chaotische Zustände sind erfrischend und beleben den Alltag, dachte Enrico und konnte sich kaum mehr zurückhalten. Also los, dachte er und galoppierte schnurstracks Richtung Freiheit, ohne die lästige Leine seines Frauchens im Schlepptau. Pablo folgte ihm, nicht wissend, was im blühte.

Deborah war ausser sich. Sie konnte im Moment die Welt nicht mehr verstehen. Beide Hunde waren weg. Pablo hatte das schon einmal gemacht, war dann aber nach kurzer Zeit wieder zurückgekehrt. Aber von Enrico kannte sie das ganz und gar nicht. Langsam wurde es dunkel und die beiden Hunde waren immer noch nicht bei ihrer Meisterin. Sie hatte eigentlich nichts anderes gemacht als was sie immer machte. Beide Hunde bekamen ihre Mahlzeit und beide Hunde wurden auf ihnen bekannten Wegen zum Säubern und Wasserlösen ausgeführt. Und trotzdem stand sie nun da: ohne Pablo und ohne Enrico. – Was tun?

In der Zwischenzeit war es dunkel geworden und die beiden Streuner waren immer noch nirgendwo zu sehen. Das Ganze wurde immer unheimlicher und mysteriöser. Hatte gar jemand ihre Hunde entführt oder sie in einen Hinterhalt gelockt? Es gab ja bekanntlich Hundehasser und da wusste man nie ja nie.

Trotz dieser Gedanken und im Wissen drum, dass sie ziemlich allein in der Landschaft stand, versuchte sie kühlen Kopf zu bewahren.


Philippe war nach wie vor unterwegs nach Südfrankreich und hat sich noch nicht gemeldet. Marvin und Rouven waren irgendwo, aber sicherlich nur schwer erreichbar. – Junge Leute haben ja heutzutage die Fähigkeit, sich scheinbar unsichtbar machen zu können. Obwohl dies nicht ganz stimmte, und man immer auf sie zählen konnte, wenn Not an Frau oder Mann war, war es manchmal doch recht schwierig, ihren tatsächlichen oder gefühlten Standort zu ermitteln. Heute versagte beides.


Enrico war auf dem Weg in Richtung Bahnhof. Pablo folgte ihm langsamen Fusses. Auf einmal hielt Pablo inne und signalisierte Enrico, dass er nicht mehr weiter gehen wolle. Er werde umkehren und nach Hause zurückkehren. Das Ganze sei ihm zu öde und auch zu anstrengend. Selbstverständlich konnte sich Enrico mit dieser Entscheidung nicht anfreunden und fauchte seinen Bruder an: «Dann geh doch du ‘Schwächling’. Ich werde mich schon allein durchschlagen können.» Gesagt, getan. Pablo kehrte um und marschierte stracks in Richtung nach Hause. Enrico, nach wie vor voller Inbrunst, schritt weiter Richtung Stadt voran – und dort, wenn möglich, zum Bahnhof. Er hatte schliesslich einmal gehört, dass man am Bahnhof einfach einen Zug besteigen könne, der einem in Richtung Süden ans Meer bringen werde. Na also! 

Die Stadt hatte nun aber doch so ihre Tücken. Gerüche, die nicht einfach einzuordnen waren, Lärm, der penetrant wirkte und viel zu viele Menschen, die einem den Weg versperrten. Langsam aber sicher kamen in Enrico Zweifel hoch, ob seine Entscheidung – auszubüxen – richtig gewesen war. Er vermisste sein Frauchen, er vermisste seinen Bruder, den Schwächling, und er vermisste vor allem sein Körbchen. Enrico war müde und er hätte sich am liebsten mitten auf dem Gehsteig niedergelegt und der Dinge gehaart, die da kommen mochten.

Aber nichts da! – Passanten und andere unfreundliche Gesellen verjagten Enrico und deuteten ihm klar und deutlich, dass er hier nichts zu suchen habe. Auch andere Streuner vertrieben Enrico, in der Annahme, dass er ihnen ihr Revier strittig machen wollte. Enrico blieb nichts anderes übrig, als zum Rückzug zu blasen. Wo aber war denn der Rückzug? Woher kam er und wohin sollte er zurückkehren? Wo war denn sein Zuhause? Enrico war völlig verunsichert und traurig. Er wusste nicht mehr weiter.

Auf einmal kam ihm ein Gedanke in den Sinn. Seine leibliche Mutter hatte ihm einmal gesagt: Junge, wenn du nicht mehr weiterweisst, verlass sich auf deinen Instinkt! – Instinkt hat etwas mit riechen zu tun, folglich muss ich mich wohl auf meinen Geruchssinn verlassen. Also laufe ich einfach dahin zurück, woher ich gekommen bin. Meine Schweissfüsse werde ich wohl noch erkennen. Gedacht, getan und nach ellenlanger Zeit erreichte Enrico schliesslich wieder sein Zuhause. Er getraute sich allerdings nicht, schnurstracks zum Eingang zu gehen, da er wusste, dass er einen Blödsinn gemacht hatte. Er wollte vorerst noch ein wenig abwarten und versteckte sich im nahen Gebüsch.


In der Zwischenzeit war Deborah völlig aus dem Häuschen. Sie versuchte Philippe zu erreichen, dieser war aber immer noch nicht angekommen. Auch Marvin und Rouven waren nicht erreichbar. Deborah sass in ihrer Küche und dachte darüber nach, was sie sonst noch tun könnte. – Die Polizei anrufen, die Feuerwehr oder wen sonst noch? Nein, das konnte es nicht sein. Sie entschied, nochmals nach draussen zu gehen um zu schauen, ob die Streuner allenfalls zurückgekehrt waren. Schliesslich hatte sich Pablo vor Jahren schon einmal die Frechheit herausgenommen, einfach abzuhauen, war dann aber ziemlich kleinlaut wieder zurückgekehrt und genoss in der Folge die Annehmlichkeiten seiner vertrauten Umgebung.

Und siehe da! – Pablo sass vor der Tür und bat um Einlass. Deborah wusste nicht, ob sie mit Pablo nun schimpfen sollte oder ihn in den Arm nehmen wollte. Sie entschied sich für Letzteres und herzte Pablo von oben bis unten. Pablo liess sich das Ganze gerne gefallen. Trotz dieser freudigen Wende fehlte nach wie vor Enrico.


Philippe war in Zwischenzeit bei Bernard angekommen und die beiden begrüssten sich aufs Herzlichste. Ein kühles Glas Rosé stand schon bereit, und die beiden älteren Herren freuten sich, sich wieder zu sehen. Der Blick aufs Meer mit seinem unverwechselbaren Duft liess Ferienstimmung in Philippe aufkommen und dazu gesellten sich all die schönen Bilder, die Philippe über die Jahre hinweg gedanklich in sich aufgenommen hatte. Er kannte keine lieblichere Gegend als diese und auch zuhause schwelgte er oft stundenlang in Erinnerungen an die wunderbaren Aufenthalte, welche er zusammen mit seiner Familie in Sainte-Maxime und seiner Umgebung erleben durfte.

Natürlich wollte sich Philippe – wie versprochen – kurz bei Deborah melden, um ihr mitzuteilen, dass er gut angekommen sei. Er erkannte auf seinem Handy, dass Deborah schon mehrfach versucht hatte ihn anzurufen, was ihm doch etwas eigenartig vorkam. Etwas musste vorgefallen sei. Er wählte die Rufnummer von Deborah und bereits beim ersten Klingelzeichen war sie am anderen Ende des Telefons. «Philippe, es ist furchtbar! Pablo und Enrico sind ausgebüxt. Von Enrico fehlt nach wie vor jede Spur. Pablo ist glücklicherweise wieder hier. Ich weiss nicht, was ich machen soll. Ich habe schon überall Nachschau nach Enrico gehalten.» - Philippe versuchte Deborah zu beruhigen, doch wusste er nur zu gut, dass ihm dies in dieser Situation nicht gelingen würde. Die Liebe zu «ihren Buben» war zu gross, um hier mit Worten etwas schönreden zu können. Trotzdem unternahm er den Versuch, Deborah zumindest gedanklich zu unterstützen. Er spürte die Traurigkeit – aber auch die Wut – in Deborahs Stimme. Sie weinte. Ach wie gerne hätte er sie jetzt in die Arme genommen.


Philippe wusste, dass er von hier aus nichts unternehmen konnte. Er hörte der Stimme von Deborah nur zu und vernahm auf einmal, im Hintergrund des Gespräches, ein leichtes Wimmern. Deborah hatte dies natürlich auch gehört und sie legte das Telefon kurz zur Seite. Deborah ging dem Wimmern nach und erkannte im Garten des Hauses ein ihr bekanntes Wesen: Es war Enrico! - Deborah hätte vor Freude jauchzen mögen, aber ihr kullerten die Tränen nur so über die Wangen und sie nahm ihren Buben in die Arme. Beinahe hätte sie vergessen, dass am andern Ende des Telefons noch Philippe wartete und gerne hoffte, dass sich das Blatt zum Guten gewendet hat.


«Philippe! Enrico ist auch wieder zurück. Er hat den Weg nach Hause gefunden und versteckte sich offenbar im Garten. Ich bin so glücklich!» «Ich auch, meine Liebe», antwortete Philippe. – Nach einer kurzen Verabschiedung und nachdem die Welt wieder in Ordnung war, wollte Deborah nur noch eins – schlafen. Auch Philippe war hundemüde und dankte seinem Gastgeber für den freundlichen Empfang.



Archives

Tag cloud

Noch keine Tags im Blog
© 2021 Peter Baumgartner, Bern/Schweiz